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Todesurteil statt Hoffnungsträger?
Die Welt wartet händeringend auf ein Medikament gegen das Coronavirus. Noch gibt es keines, so dass sehnsüchtig nach jedem Strohhalm gegriffen wird. In den Fokus gerückt sind bei der Suche auch Medikamente, die sich bereits bei der Behandlung anderer Krankheiten bewährt haben und möglicherweise das Potenzial besitzen, SARS-CoV-2 zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang zogen die beiden eng verwandten Malariamittel Hydroxychloroquin und Chloroquin weltweit die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und Ärzten auf sich. Eine der bislang umfangreichsten Studien im Rahmen der Corona-Pandemie hat sich mit ihnen befasst.
Ernüchterndes Ergebnis: Die beiden Hoffnungsträger bringen keine Besserung bei der Behandlung von COVID-19-Patienten, sondern schaden ihnen sogar noch, indem sie lebensgefährliche Herz-Rhythmus-Störungen verursachen. Nach der in der renommierten Medizinzeitschrift The Lancet1 veröffentlichten Studie, ergab sich dieses Ergebnis: Bei COVID-19-Patienten, die Hydroxychloroquin erhielten, nahm des Sterberisiko um 34 Prozent und das Risiko für schwere Herz-Rhythmus-Störungen um 137 Prozent zu. Erhielten Sie gleichzeitig noch ein Antibiotikum, stieg das Sterberisiko um 45 Prozent und das Risiko für schwere Herz-Rhythmus-Störungen um 411 Prozent.
Wurde der Wirkstoff Chloroquin verabreicht, nahm das Sterberisiko um 37 Prozent und das Risiko für schwere Herz-Rhythmus-Störungen um 256 Prozent zu. Bekamen sie zusätzlich noch ein Antibiotikum, steigerte dies das Sterberisiko ebenfalls um 37 Prozent und das Risiko schwerer Herz-Rhythmus-Störungen um 301 Prozent.2
Ungereimtheiten nährten Zweifel
Nach dieser Veröffentlichung schien der Fall klar zu sein: Die Behandlung mit Hydroxychloroquin und Chloroquin ist hochgefährlich. Weltweit reagierten Ärzte sofort und brachen COVID-19-Behandlungen mit diesen Medikamenten ab. Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzte die Fortführung von Studien mit diesen Wirkstoffen aus.
Doch war diese Reaktion angemessen? Stimmten die Ergebnisse tatsächlich? Oder handelte es sich um eine Fake-Studie? Mittlerweile zog das Fachblatt The Lancet den dort veröffentlichen Beitrag zu Hydroxychloroquin und Chloroquin bei der Behandlung von COVID-19-Patienten zurück.
Rund 120 Ärzte und Wissenschaftler aus aller Welt äußerten schwere Kritik an der Studie zu Hydroxychloroquin und Chloroquin. Die Durchführung und Auswertung der Untersuchung sei nicht nachvollziehbar, hieß es. Überhaupt wäre es ein großes Rätsel, woher die Daten zu der Studie stammten und wie die Ergebnisse entstanden seien?
Auch an der Universitätsklinik Tübingen, an der in Deutschland im Rahmen einer randomisierten, doppelblinden und Placebo-kontrollierten Studie die Wirksamkeit von Hydroxychloroquin gegen COVID-19 überprüft werden sollte, wurde die Fortführung der Untersuchung für 2 Wochen ausgesetzt. Die dort durchgeführte Studienart (randomisiert, doppelblind, Placebo-kontrolliert) gilt als die strengste und seriöseste Form der Testung von Medikamenten. Behandelt wurden damit zwei Gruppen von COVID-19-Patienten: Einmal solche mit schwereren Symptomen, die stationär in der Klinik behandelt wurden. Und einmal Patienten mit leichteren Symptomen, für die eine ambulante Therapie ausreichte.
Unterbrochen wurde die Studie aufgrund der von der WHO ausgesprochenen Warnung. Objektive Kriterien für den Abbruch gab es an der Universitätsklinik Tübingen keine. Im Gegenteil: Der medizinische Direktor des Universitätsklinikums Tübingen betonte vielmehr, dass es keinerlei Hinweise auf schwere Nebenwirkungen gibt, die mit Hydroxychloroquin in Verbindung gebracht werden können.3
Daten für die Studie aus unsicherer Quelle
Wie kann das sein? Einmal heißt es, die Behandlung mit den Malariawirkstoffen sei nicht nur hochriskant, sondern sogar lebensgefährlich. Zum anderen können seriöse Wissenschaftler nicht den geringsten Hinweis dafür entdecken, dass dieser Zusammenhang stimmt. Ein Blick auf die Quelle der für die Studie verwendeten Patientendaten könnte das Ganze aufklären – sie stammen von der Firma Surgisphere aus Chicago.
Das bislang vollkommen unbekannte US-Unternehmen soll angeblich über eine der weltweit größten Datenbanken mit Patientendaten verfügen. Die Daten von 96.000 Patienten aus 1.200 Kliniken weltweit sollen dort gespeichert sein. In die Studie zu den Malariawirkstoffen seien angeblich die Daten aus 671 Krankenhäusern eingeflossen, gab Sapan Desai an, der Geschäftsführer von Surgisphere – und legte damit den Grundstein für ein globales Rätselraten.4
Wie sollte es der winzigen Firma gelungen sein, so viele Daten zusammenzutragen. Auf der LinkedIn-Seite des Unternehmens schwankte die Zahl der Mitarbeiter in der Vergangenheit zwischen 3 und 6. Heute gibt Desai an, würden 11 Mitarbeiter für Surgisphere arbeiten. Auch das wären nach Ansicht seriöser Forscher viel zu wenige, um die vorgebliche Menge von Daten zusammenzutragen und zu bearbeiten. Laut Desai bräuchte es auch nicht mehr Mitarbeiter, da ausgeklügelte Computerverfahren mit Hilfe künstlicher Intelligenz dies bewerkstelligen würden.
Eigenartig nur, dass die Herkunft der Daten sehr nebulös ist. Angeblich stammen diese unter anderem auch aus fünf australischen Kliniken. Doch als das Australienbüro des britischen Guardian bei diesen Kliniken nachfragte, konnte keine einzige davon die Zusammenarbeit mit Surgisphere bestätigen. Außerdem kommen in der Studie mehr COVID-19-Tote vor, als es zu diesem Zeitpunkt in Australien gab. Laut Sapan Desai alles nur aufgrund einer höchst bedauerlichen Verwechslung …
Zweifel kommen auch zur Verwendung von Patientendaten aus Afrika auf: Angeblich wurden die Daten von 4.402 Patienten aus afrikanischen Kliniken ausgewertet.5 Für afrikanische Krankenhäuser ist es laut Statistikexperten aber so gut wie unmöglich, mit den dort bestehenden technischen Möglichkeiten so viele Patientendaten detailliert elektronisch aufzuarbeiten und in die Datenbank des US-Unternehmens einzuspeisen. Dies käme einem Computerwunder gleich, wo doch die afrikanischen Kliniken in den verschiedenen Ländern untereinander kaum kompatibel in der Datenverarbeitung sind.
Pornomodell und Science-Fiction-Autor
Nahrung erhalten alle diese Zweifel noch, wenn die Mitarbeiter von Surgisphere näher betrachtet werden. Geschäftsführer Sapan Desai ist selbst eine sehr schillernde Person. Von Juni 2016 bis Februar 2020 war er als Gefäßchirurg am Northwest Community Hospital in Illinois angestellt.6 Am 10. Februar 2020 kündigte er seine Anstellung aus »persönlichen Gründen«.
Vermutlich waren die »persönlichen Gründe« drei Kunstfehlerklagen gegen ihn, wovon zwei im November 2019 bei Gericht eingereicht wurden. In einer davon warf ihm der Patient Joseph Vitagliano nachlässiges und fahrlässiges Arbeiten vor, wodurch er dauerhafte Schäden erlitten habe. Vermutlich war ein Grund für das schlampige Arbeiten zum Leiden der Patienten die Doppelbelastung Desais in der Klinik und gleichzeitig in seiner Firma Surgisphere. Die Datensammelfirma wurde von Desai bereits im Jahr 2008 gegründet und existierte parallel zu seiner Anstellung als Gefäßchirurg.
Ebenso schillernde Figuren sind Mitarbeiter von Surgisphere: Der Wissenschaftsredakteur, der als einer der maßgeblichen Autoren der Studie über Hydroxychloroquin und Chloroquin aufgeführt wurde, verdient sich seine Brötchen abseits seiner Tätigkeit als Studienautor bei Surgisphere als Science-Fiction- und Fantasy-Autor. Und die leitende Marketingmitarbeiterin hat neben ihrer Tätigkeit bei Surgisphere ebenfalls noch einen weiteren einträglichen Job – sie arbeitet als Porno-Darstellerin und prostituiert sich als Event-Hostess.
Studien werden fortgesetzt
Werden Studien mit Daten aus solch zweifelhafter Herkunft wie von Surgisphere erstellt, ist das nicht nur nachlässig, sondern es kann Patienten ihr Leben kosten. Außerdem diskreditiert es darüber hinaus den gesamten Wissenschaftssektor. Auch eine zweite Studie, die am 01. Mai 2020 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, hatten Autoren mit Daten der Firma Surgisphere angefertigt.
Nachdem der Verdacht aufgekommen war, dass sogenannte ACE-Hemmer – wie zum Beispiel das Schmerzmittel Ibuprofen – den Verlauf einer schweren COVID-19-Erkrankung zusätzlich verschlimmern und eventuell sogar zum Tode führen können, wurde dies anhand der Untersuchung des Krankheitsverlaufs von mehreren Tausend Patienten überprüft, deren elektronische Patientenakten ebenfalls aus dem angeblichen Datenpool von Surgisphere stammen sollen. Das Ergebnis der Studie, im New England Journal of Medicine veröffentlicht:7
»… keine Belege für die Hypothese, dass die Einnahme von ACE-Hemmern oder ARB (Angiotensin-Receptor Blocker) mit dem Risiko einer SARS-CoV-2-Infektion, dem Risiko einer schweren COVID-19-Infektion bei den Infizierten oder dem Risiko eines Todes im Krankenhaus bei denjenigen mit einem positiven Test verbunden ist.«
Ob dies wirklich den Tatsachen entspricht, sollte schnellstmöglich überprüft werden. Stimmt es nicht, könnte es nämlich für COVID-19-Patienten lebensgefährlich werden, wenn sie etwa zur Behandlung lapidarer Kopfschmerzen Ibuprofen einnehmen.
Nochmals überprüft wird mittlerweile auch die Wirksamkeit von Hydroxychloroquin und Chloroquin bei der Behandlung von COVID-19, nachdem die Weltgesundheitsorganisation ihre Warnung vor lebensgefährlichen Nebenwirkungen zurückgenommen hat. Vermutlich stellt sich dabei heraus, dass die Malariamedikamente doch hilfreich bei der Therapie sind. Ist das der Fall, wäre womöglich aufgrund einer Fake-Studie ein wertvolles Medikament zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht erkannt worden.