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Cochrane – eine Institution wackelt
Als die Cochrane Collaboration 1993 gegründet wurde, steckte ein hehrer Gedanke dahinter. Wie ein Fels in der Brandung sollte die Organisation völlig frei und unabhängig von jeglichem Einfluss Orientierung im Dschungel medizinischer Forschung und medizinischer Studien bieten. Studien, die Cochrane-Mitarbeiter begutachten und für gut halten, sollen über jeden Zweifel erhaben sein: Hier stecken keine finanziellen Interessen von Pharmaunternehmen oder politische Ambitionen von Regierungen dahinter. Das wissenschaftliche Knowhow der Wohltätigkeitsorganisation mit Sitz in London ist gewaltig: Mehr als 79.000 Mitarbeiter in über 130 Ländern sind weltweit für Cochrane tätig.
Doch ausgerechnet zur Feier des 25. Geburtstages der Organisation am 26. September 2018 erhielt das bislang makellose Renommee von Cochrane einen tiefen Kratzer. Das Governing Board, Leitungsgremium von Cochrane und in etwa vergleichbar mit dem Aufsichtsrat einer Kapitalgesellschaft, kündigte völlig überraschend und einseitig die Mitgliedschaft von Peter C. Gøtzsche. Der dänische Medizinforscher und Arzt, Führungs- und Gründungsmitglied von Cochrane sowie Direktor des Nordic Cochrane Centers am Rigshospitalet in Kopenhagen, wurde wegen »schlechten Benehmens« an die Luft gesetzt. So die eigenartige und nur hinter vorgehaltener Hand verlautbarte Begründung für diese Aktion – ein Verhalten, das eher an die Erziehungsmethoden in einem Kindergarten erinnert als an die Umgangsformen in einer angesehenen Wissenschaftlerriege.
Strafe für einen Unbequemen?
Was steckte wirklich hinter diesem ganz und gar unfeinen Rausschmiss des dänischen Gründungsmitglieds von Cochrane? Nur wenige Tage nach der Kündigung Gøtzsches bezog Gerd Antes, damals Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, zu der auch für ihn unverständlichen Aktion Stellung1: »Gøtzsche hat in einer Fülle von Artikeln und Büchern Analysen zu vielen brisanten Themen der heutigen Gesundheitsforschung und -versorgung publiziert und dazu Stellung bezogen. Die dabei gezeigte Vorgehensweise war fast immer von Direktheit und Kompromisslosigkeit im Verhalten und in Formulierungen geprägt, die polarisierend waren … Damit verkörpert Gøtzsche einerseits Prinzipientreue, Unbeugsamkeit und Integrität von Cochrane, auf der anderen Seite jedoch einen Mangel an diplomatischer, verbindlicher Kommunikation …«
Anders gesagt: Hatte Gøtzsche sich einmal eine Meinung gebildet, stand er zu ihr, verteidigte sie und änderte auch nicht unter Repressalien seine Einstellung – ohne Rücksicht auf diplomatisches, aber nutzloses Geplänkel. Mit diesem Verhalten hielt er sich exakt an die Grundsätze von Cochrane. Dass er damit gar nicht so falsch lag, zeigt die Reaktion von vier weiteren Mitgliedern des Cochrane-Führungsgremiums, die unter Protest aus dem Governing Board austraten.
HPV-Impfung bringt das Fass zum Überlaufen
Schon immer hatte Peter C. Gøtzsche offen und ehrlich seine Meinung geäußert, auch wenn sie Pharmaunternehmen oder Regierungen nicht genehm war. Er kritisierte das Mammographie-Screening als wenig hilfreich bei der effektiven Bekämpfung von Brustkrebs oder sagte es direkt, wenn er den Nutzen von Medikamenten eher in der Kasse von Pharmariesen vermutete als beim Patienten.
Das Humane Papillomavirus (HPV) steht im Verdacht, maßgeblich an der Entstehung von Gebärmutterhalskrebs beteiligt zu sein. Entsprechend groß war der Jubel, als im Juni 2006 in den USA und im September 2006 in Europa erstmals ein Impfstoff gegen HPV-Infektionen zugelassen worden war. Bis Januar 2008 wurden in Europa nach Aussage der Europäischen Arzneimittelagentur2 mehr als 1,8 Millionen Frauen damit geimpft. Um die HPV-Impfung quasi auch noch zu adeln, wurde sie den Cochrane-Experten zur Begutachtung übergeben. Diese stuften in ihrer Veröffentlichung vom Mai 20183 die Impfung als sicher und wirksam ein – womit der ganze Ärger schließlich begann.
Peter C. Gøtzsche konnte und wollte sich dieser Einschätzung auf keinen Fall anschließen. Er kritisierte, dass sie nicht unabhängig und unbeeinflusst zustande kam. Im British Medical Journal4 bemängelte Gøtzsche, dass Autoren der Cochrane-HPV-Übersicht Interessenskonflikte nicht angegeben hätten und für Institutionen arbeiten, die Geld von den Impfstoffherstellern erhalten. Außerdem blieben etliche Studien zur HPV-Impfung unbeachtet, welche die Impfung nicht so positiv beurteilten oder Nebenwirkungen – zum Teil gravierende – aufzählten. Diese ließen die Cochrane-Experten, so Gøtzsche, einfach unbeachtet unter den Tisch fallen, so dass das Ergebnis schamlos schöngeschrieben wurde.
Korruption in der Grippeimpfstoff-Forschung
Nach wie vor sieht Peter C. Gøtzsche in dem Gebiet der Erforschung und Herstellung von Impfstoffen, insbesondere von Grippeimpfstoffen, ein Minenfeld für Patienten. Wer Hilfe sucht, muss es durchqueren und hoffen, keinen Fehltritt zu machen. Jedenfalls verteilte Gøtzsche am 9. Februar 2020 über Twitter5 eine entsprechende Warnung vor Korruption und falschen Versprechungen zur Wirksamkeit dieser Impfstoffe aufgrund von – wieder einmal – frisierten Studien. Seine Überprüfung Dutzender Studien zur Wirksamkeit der Impfstoffe ergab bei weitem keine so gute Schutzwirkung wie von den Herstellern vorgegeben.
Dass diese Behauptung nicht willkürlich ist, zeigt die Statistik des Robert Koch Instituts zur Impfeffektivität6. Sie lag in der Grippesaison 2016/17 lediglich bei 21 Prozent. Trotzdem wird die Wichtigkeit der Grippeimpfung – wohl auf Druck der Impfstoffhersteller – immer wieder betont. Aber alles kein Problem für die Pharmaindustrie – wirkt der Impfstoff nicht wie angegeben und kommt es zu einer Grippewelle, dann ist das gleichbedeutend mit einer zweiten »Kohlewelle«. Nach dem vorherigen Verkauf des Impfstoffs kommt dann der Verkauf eines Grippemedikaments richtig schön in Schwung und die Kasse klingelt ein zweites Mal. Selbst wenn das Medikament nahezu wirkungslos ist, was aber in den Studien pharmagewogener Wissenschaftler tunlichst verschwiegen wird. Peter C. Gøtzsche wird schon aus diesem Grund nicht müde, vor einer zu großen Nähe von Wissenschaftlern, die in ihren Studien Wirkstoffe beurteilen, zu Pharmafirmen zu warnen.
Beispiel: Grippemedikament »Tamiflu«
»Nicht nur Gøtzsche macht immer wieder darauf aufmerksam,dass pharmagesponserte Studien deutlich häufiger für die Firmen günstigeErgebnisse erzielen, als öffentlich finanzierte. Vorteilhafte Ergebnisse würdenveröffentlicht, negative fielen unter den Tisch«, schreibt Transparency InternationalDeutschland e. V. in seiner Erklärung7 zum Ausschluss von PeterGøtzsche aus dem Cochrane-Netzwerk. »Peter Gøtzsche setzt sich vehement dafür ein, dass alle Datenvon klinischen Studien veröffentlicht werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dassPharmafirmen immer wieder Daten zurückhalten, um behaupten zu können, einMedikament wäre wirksam. So hat Roche Milliarden an seinem Anti-GrippemittelTamiflu, dem antivirale Eigenschaften zugeschrieben wurden, verdient.Tatsächlich war das Mittel jedoch kaum wirksam. Das stellte sich aber erstheraus, als der Pharmariese gerichtlich gezwungen wurde, zurückgehalteneStudiendaten herauszugeben.«
Was war geschehen? Um dieJahrtausendwende wurden in Europa mit großem Bohei die GrippemedikamenteTamiflu und Relenza zugelassen. Sie wurden als Meilensteine in der Behandlungvon virusverursachter Grippe gefeiert. Wissenschaftliche Studien untermauerteneindrucksvoll die Wirksamkeit – und entpuppten sich später als Paradebeispielfür wissenschaftliche Augenwischerei. Bis es jedoch so weit war, konnten dieherstellenden Pharmafirmen allerdings mehrere Dutzend Staaten davon überzeugen,die Grippemittel zu horten, falls der Grippeimpfstoff nicht wirken und es zueiner Grippeepidemie kommen sollte. Dies wurde zur wohl teuersten Lagerhaltungvon nahezu wert- und wirkungslosen Medikamenten in der Geschichte. DiePharmaunternehmen kassierten dafür von den Staaten Milliarden – und hieltenkonsequent alle Unterlagen zu Studien zurück, welche die Wirkungslosigkeitbelegten. Positive bzw. positiv »gemachte« Belege hingegen wurden in der Öffentlichkeitgroß herausgestellt. Erst viel später stellte sich die Nähe der Wissenschaftlerzum Pharmaunternehmen Roche (Tamiflu) heraus: Vier der sechs Autoren waren zumZeitpunkt der Studie bei Roche angestellt, ein Autor war ein bezahlter Beraterdes Unternehmens.Erst nachdem die Herausgabe der kompletten Studienunterlagen gerichtlichangeordnet wurde und unabhängige Wissenschaftler den Datenberg von 16.000Seiten sichteten, wurde der Schwindel offengelegt8: Während dieGrippesymptome im Durchschnitt bei Erkrankten 160 Stunden anhalten, wurden siedurch die Einnahme von Tamiflu lediglich um 21 Stunden verkürzt – wohl dieteuersten jemals bezahlten Stunden, wenn man bedenkt, wie viele Milliarden dasnahezu wirkungslose Medikament dem Hersteller brachte.
Vorsicht: Die Coronaepidemie verleitet zu Schwindel
Dass Peter C. Gøtzsche ausgerechnet jetzt von Korruption und Schwindel in der Pharmabranche warnt, hat einen guten Grund: Die derzeitige Situation der sich weltweit explosionsartig vermehrenden Corona-Infektionen schreit geradezu nach einer Lösung. Doch momentan gibt es kein wirksames Medikament und keine Impfung. Wer eines entwickelt, kann sehr reich werden. Und – ob böswillig oder hoffnungsvoll – es wird bestimmt wieder Wissenschaftler geben, welche die Grenzen seriöser Studienarbeit nicht einhalten. Ob nun geködert von der Pharmaindustrie oder nicht – den Menschen und Patienten auf der Welt ist es keine Hilfe. Deshalb ist es wichtig, dass es Wissenschaftler wie Peter C. Gøtzsche gibt- kompromisslos, geradlinig und mit Leidenschaft zur Wahrheit.