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Von einer »Jahrhundert-Pandemie« ist die Rede im Zusammenhang mit COVID-19, der vom Coronavirus ausgelösten Erkrankung. Aber man könnte genauso gut von einem »Jahrhundert-Fiasko« sprechen.

Wir alle benötigen derzeit bessere Informationen – von den Forschern, die Modelle über den weiteren Verlauf der Krankheit entwickeln, über Regierungen bis hin zu den Menschen, die sich in Quarantäne befinden oder einfach »soziale Distanz« betreiben.
Wir alle benötigen zuverlässige Fakten darüber, wie viele Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert wurden und wer sich weiterhin ansteckt. Wir benötigen bessere Informationen, um bessere Entscheidungen treffen zu können und um Handlungen mit enormer Tragweite festzulegen und überwachen zu können, wie sie sich auswirken.

Steuern wir auf ein »Jahrhundert-Fiasko« zu?

In vielen Ländern hat man zu drakonischen Gegenmaßnahmen gegriffen. Sollte die Pandemie abebben – entweder von allein oder als Folge dieser Maßnahmen –, mögen eine kurze Phase der sozialen Distanz und der Lockdowns (vollständigen Abriegelung) erträglich erscheinen. Aber wie lange sollten derartige Maßnahmen fortgesetzt werden, sollte die Pandemie ungebremst rund um den Globus toben? Wie können politische Entscheider erkennen, ob sie mehr Gutes bewirken oder mehr Schaden anrichten?

Impfstoffe oder bezahlbare Therapien zu entwickeln und gründlich zu testen, ist ein Prozess, der viele Monate oder sogar Jahre dauert. Angesichts eines derartigen Zeitrahmens ist überhaupt nicht abzusehen, was ein langfristiger Lockdown für Konsequenzen hätte.

Die Daten, die bislang zu den Infektionszahlen und dem Verlauf der Epidemie erhoben wurden, sind völlig unzuverlässig. Es gab bislang nur wenige Tests, insofern dürfte man einige Todesfälle und vermutlich die absolute Mehrheit der von Sars-CoV-2 verursachten Infektionen übersehen haben. Wir wissen nicht einmal, ob wir bei der Zahl der Infektionen um den Faktor 3 oder den Faktor 300 danebenliegen.
Drei Monate nach Bekanntwerdens des Ausbruchs fehlen den meisten Ländern – auch den USA – die Möglichkeiten, in großem Stil zu testen, und kein Land verfügt über belastbare Daten, was die Verbreitung des Virus in einer repräsentativen Zufallsprobe der allgemeinen Bevölkerung anbelangt.

Fehlende Fakten und Daten machen hilflos

Dieses Fakten-Fiasko sorgt für enorme Ungewissheit, was die Gefahr angeht, an COVID-19 zu sterben. Veröffentlichte Sterblichkeitszahlen wie die 3,4 Prozent, die die Weltgesundheitsorganisation offiziell nennt, lösen Angst und Schrecken aus – und sind völlig bedeutungslos. Unter den Patienten, die auf SARS-CoV-2 getestet wurden, sind überproportional viele mit schweren Symptomen und ungünstigen Krankheitsverläufen. Da die meisten Gesundheitssysteme nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen, Tests durchzuführen, könnte sich in naher Zukunft das Problem der Stichprobenverzerrung noch weiter verschlimmern.

Rund 2 Wochen mussten Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord der Diamond Prinzess in Quarantäne bleiben
©junce11 – stock.adobe.com

Es gab eine einzige Situation, in der eine komplette, geschlossene Population getestet wurde, und das waren die in Quarantäne sitzenden Menschen auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess. Die Todesfallrate dort lag bei einem Prozent, aber es handelte sich hier überwiegend um ältere Menschen, bei denen die Sterberate aufgrund von COVID-19 ohnehin deutlich höher ist.

Das Ringen um den richtigen Faktor

Überträgt man die Sterblichkeitsrate der Diamond Princess auf die Altersstruktur der amerikanischen Bevölkerung, beliefe sich die Sterberate unter den mit COVID-19 infizierten Menschen auf 0,125 Prozent. Diese Schätzung basiert jedoch auf ausgesprochen dünnen Daten – unter den 700 Passagieren und Besatzungsmitgliedern an Bord des Kreuzfahrtschiffs gab es nur sieben Todesfälle. Insofern könnte die wahre Sterberate fünfmal niedriger sein (0,025 Prozent) oder auch fünfmal höher (0,625 Prozent).
Möglich ist zudem, dass einige infizierte Passagiere noch sterben und dass die Touristen eine andere Häufung chronischer Krankheiten aufweist als die allgemeine Bevölkerung, was insofern von Relevanz ist, als chronische Krankheiten ein Risikofaktor sind, was den Verlauf der Sars-CoV-2-Infektion anbelangt.
Berücksichtigt man diese, die Unsicherheit noch zusätzlich steigernden Faktoren, variieren angemessene Schätzungen zur Sterblichkeitsrate innerhalb der allgemeinen amerikanischen Bevölkerung zwischen 0,05 und 1 Prozent.

Diese gewaltige Spanne hat deutlichen Einfluss darauf, wie schwer die Pandemie ist und was man unternehmen sollte. Eine auf die Gesamtbevölkerung bezogene Sterberate von 0,05 Prozent wäre niedriger als die der saisonalen Influenza. Wäre das die korrekte Rate, wäre es möglicherweise völlig unvernünftig, einen globalen Lockdown mit potenziell riesigen gesellschaftlichen und finanziellen Folgen in Kraft treten zu lassen.

Das wäre so, als würde ein Elefant von einer Hauskatze angegriffen. Weil er frustriert ist und der Katze unbedingt aus dem Weg gehen will, springt der Elefant versehentlich von einer Klippe und stirbt.

John P.A. Ioannidis

Leichte Coronaviren infizieren jedes Jahr Millionen von Menschen

Kann die Sterblichkeitsrate von COVID-19 tatsächlich so gering sein? Nein, sagen einige und verweisen auf die hohen Fallzahlen bei älteren Menschen. Doch selbst seit Jahrzehnten bekannte Coronaviren, die als »leicht« eingestuft werden oder die man der gewöhnlichen Erkältung einstuft, können unter Bewohnern von Altersheimen eine Sterberate von bis zu 8 Prozent1 nach sich ziehen. Tatsächlich infizieren diese »leichten« Coronaviren jedes Jahr Millionen Menschen. Von den Menschen, die jeden Winter in den USA ins Krankenhaus eingeliefert werden, leiden zwischen 3 und 11 Prozent3 an Infektionen der unteren Atemwege.

Seit Jahrzehnten verursachen »leichte« Coronaviren, die nicht durch exakte Testmethoden nachgewiesen werden, mehrere tausend Todesfälle
©Wordley Calvo Stock – stock.adobe.com

Diese »leichten« Coronaviren verursachen jedes Jahr weltweit möglichweise mehrere tausend Todesfälle, aber die absolute Mehrheit davon wird nicht durch exakte Testmethoden nachgewiesen. Stattdessen verschwimmen sie im Hintergrundrauschen der 60 Millionen Todesfälle pro Jahr, die auf die unterschiedlichsten Ursachen zurückgehen.

Für die Grippe gibt es seit Langem erfolgreiche Überwachungsmethoden, aber nur in einem winzigen Bruchteil aller Fälle wird die Krankheit tatsächlich durch eine Laborprobe bestätigt. In den USA beispielsweise wurden in dieser Saison bislang 1.073.976 Proben2 untersucht, von denen 222.552 (oder 20,7 Prozent) positiv waren. Im selben Zeitraum lag die geschätzte Zahl grippaler Erkrankungen zwischen 36 Millionen und 51 Millionen und die Zahl der daraus resultierenden Todesfälle bei 22.000 bis 55.000.

Es fällt auf, wie groß die Ungewissheit rund um die Zahl der Todesfälle ist, die auf grippeartige Erkrankungen zurückgeführt werden können. Wir sprechen hier über einen Faktor von »2,5«, was mehreren zehntausend Fällen entspricht. Jedes Jahr entfallen auf diese Todesfälle einige durch Grippe und andere durch andere Viren, etwa gewöhnliche Erkältungsviren.

Der Vergleich mit der Grippesaison 2016/2017

Bei einer Autopsiereihe3 wurden Proben von 57 älteren Menschen untersucht, die in der Grippesaison 2016/17 ums Leben gekommen waren. Die Proben wurden auf Viren untersucht, die Atemwegserkrankungen verursachen. Grippeviren fanden sich in 18 Prozent der Proben, Atemwegsviren dagegen fand man bei 47 Prozent. Bei einigen Menschen, die an Atemwegsviren sterben, findet sich bei einer Autopsie mehr als ein Virus und häufig werden Bakterien überlagert. Ein positiver Test auf das Coronavirus bedeutet nicht zwingend, dass es immer dieses Virus war, das für das Ableben eines Patienten verantwortlich war.

Die Sterblichkeit würde uns nicht ungewöhnlich hoch erscheinen, wenn wir nicht wüssten, dass ein neues Virus kursiert
© Georgiy Shipin – stock.adobe.com

Angenommen, die Todesfallrate bei Personen, die mit Sars-CoV-2 infiziert sind, beträgt für die allgemeine Population 0,3 Prozent – was einem mittleren Wert aus meiner Diamond-Princess-Analyse entspricht – und dass ein Prozent der US-Bevölkerung sich infiziert (etwa 3,3 Millionen Menschen), dann würde dies um die 10.000 Tote bedeuten. Das klingt nach einer enormen Menge, verschwindet aber in der Schätzungen zu den Toten durch »grippeähnliche Krankheiten«.
Hätten wir nicht gewusst, dass da draußen ein neues Virus kursiert, und hätten wir nicht einzelne Personen mithilfe von PCR-Tests untersucht, würde die Gesamtzahl der Menschen, die dieses Jahr an »grippeähnlichen Krankheiten« sterben, nicht ungewöhnlich hoch erscheinen. Wir hätten höchstens und völlig entspannt angemerkt, dass die Grippesaison offenbar etwas schlimmer als normal verlaufen ist. Die Medien hätten weniger darüber berichtet als über das Spiel zweier Profimannschaften aus den untersten Tabellenregionen.

Einige äußern Besorgnis, dass die 68 COVID-19-Toten, die die USA bis zum 16. März4 zu verzeichnen hatte, exponentiell auf 680, 6.800, 68.000, 680.000 ansteigen könnten … begleitet von ähnlichen Katastrophenszenarien rund um den Globus. Ist das ein realistisches Szenario oder schlechte Science-Fiction? Wie können wir sagen, an welchem Punkt eine derartige Kurve möglicherweise abreißt?

Angst durch die unsichere Datenlage

Die wertvollste Information in diesem Zusammenhang wäre zu wissen, wie weit sich die Infektion in einer beliebigen Stichprobe der Bevölkerung ausgebreitet hat. Diese Erhebung müsste man dann in regelmäßigen Abständen wiederholen, um abschätzen zu können, inwieweit es zu Neuinfektionen gekommen ist. Leider verfügen wir nicht über diese Information.

Solange diese Daten fehlen, führt eine »Stellt euch auf das Allerschlimmste«-Logik zu extremen Maßnahmen wie soziale Distanz und Lockdowns. Leider können wir nicht sagen5, ob derartige Schritte funktionieren. Schulschließungen beispielsweise könnten die Übertragungsraten reduzieren. Sie könnten sich aber auch negativ auswirken, wenn die Kinder trotzdem Umgang untereinander pflegen, wenn sie mehr Zeit mit anfälligen älteren Angehörigen verbringen, wenn sie Eltern daran hindern, zu Hause zu arbeiten, und so weiter. Schulschließungen könnten zudem verhindern, dass sich in einer Altersgruppe, die frei von schweren Erkrankungen ist, eine Form von Herdenimmunität ausbildet.

Das war der Grund dafür, dass Großbritannien die Schulen vergleichsweise lange offengelassen hat.6 Solange keine Daten zum tatsächlichen Verlauf der Epidemie vorliegen, können wir nicht beurteilen, ob dieser Ansatz brillant war oder verheerend.

»Flattening the curve«7, die Kurve der Neuinfektionen niedrig zu halten, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird, ist von der Grundidee her ein vernünftiger Ansatz – in der Theorie. In den Medien und den sozialen Medien kursiert eine Grafik, die zeigt, wie sich die Kurve der Epidemie zwar abschwächt, aber trotzdem jederzeit oberhalb dessen liegt, was das Gesundheitssystem zu bewältigen imstande ist.

Wie stabil ist unser Gesundheitssystem?

Wenn das Gesundheitssystem allerdings überfordert ist, könnte die Mehrzahl der zusätzlichen Todesfälle möglicherweise nicht auf das Coronavirus zurückzuführen sein, sondern auf andere häufige Krankheitsbilder und Erkrankungen wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Traumata, Blutungen und andere Dinge, die nicht angemessen behandelt werden.
Überfordert das Ausmaß der Epidemie das Gesundheitssystem und extreme Maßnahmen tragen nur begrenzt Früchte, dann könnte »Flattening the curve« die Situation sogar noch verschlimmern: Das Gesundheitssystem wäre dann nicht während einer kurzen, akuten Phase über seine Obergrenze hinaus belastet, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass wir Daten zum genauen Ausmaß der epidemischen Aktivität benötigen.

Unter dem Strich steht:

Wir wissen nicht, wie lange soziale Distanz und Lockdowns fortgesetzt werden können, ohne dass die Wirtschaft, die Gesellschaft und die geistige Gesundheit schweren Schaden nehmen.

John P.A. Ioannidis

Es können Entwicklungen eintreten, die bislang überhaupt nicht abzusehen waren, Finanzkrisen, Unruhen, gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Krieg und ein Bruch im gesellschaftlichen Gefüge. Das mindeste, was wir für weitere Entscheidungen benötigen, sind zuverlässige Daten zur Prävalenz und Inzidenz der Infektionen.

Im schlimmsten Fall erreicht die Sterblichkeit das Niveau der Spanischen Grippe von 1918

Das pessimistischste Szenario – ich vertrete es nicht – geht davon aus, dass das neue Coronavirus 60 Prozent der Weltbevölkerung infiziert und 1 Prozent der infizierten Menschen sterben. Das entspräche mehr als 40 Millionen Toten weltweit und wäre damit auf einem Niveau mit der Influenza-Pandemie von 1918.

Die überwältigende Mehrheit dieser Hekatombe (Anm. d. R.: »einem unheilvollen Ereignis o. Ä. zum Opfer gefallene, erschütternd große Zahl von Menschen« lt. Duden) wären Menschen mit begrenzter Lebenserwartung. Das steht im Gegensatz zu 1918, als viele junge Menschen starben.

Es bleibt nur zu hoffen, dass genau wie 1918 das Leben weitergehen wird. Hat ein Lockdown Bestand für Monate oder gar Jahre, kommt das Leben dagegen größtenteils zum Stillstand. Die kurzfristigen Auswirkungen sind absolut nicht abzuschätzen, ebenso wenig die langfristigen. Nicht nur Millionen, nein Milliarden von Menschenleben stünden dann möglicherweise auf dem Spiel.

Entschließen wir uns, von der Klippe zu springen, benötigen wir Daten, die uns Sinn und Zweck dieses Sprungs erklären – und die uns sagen, wie groß die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Landung ist.

Dieser Artikel erschien am 17. März 2020 auf STAT, einer amerikanischen Nachrichten-Website zum Thema Gesundheit und Medizin, die ehrgeizige Berichterstattung zum Thema Coronavirus bietet.

Quellen & weiterführende Informationen

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