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Häufig werden Rückenschmerzen falsch behandelt

Autsch, tut das weh! Eine falsche Bewegung und schon schießt der Schmerz ins Kreuz. Also, nichts wie ab zum Arzt. Wirklich? Lieber nicht. Glaubt man einer vor kurzem erschienenen Artikelserie in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet,1,2 dann ist das nicht gerade die beste Lösung. Weltweit sind rund 540 Millionen Menschen von Rückenschmerzen betroffen.
Das internationale Team von Wissenschaftlern, welches die Artikel verfasst hat, ist der Meinung, dass die Behandlung der Betroffenen nicht optimal ist. Die Patienten werden falsch behandelt, es werden überflüssige Diagnoseverfahren angewandt, es werden sinnlos Arzneien gegen die Schmerzen verordnet, es werden Operationen vorgenommen, die es nicht bräuchte. Mit dem Ergebnis, dass die Rückenschmerzen häufig nur für kurze Zeit verschwinden, dann aber umso heftiger wiederkommen.
Es wird auf Teufel komm‘ raus diagnostiziert und operiert
Dieses Problem gibt es auch in Deutschland. Mehr als jeder vierte Deutsche geht mindestens einmal im Jahr wegen Rückenschmerzen zum Arzt.3 Nach der ersten Behandlung verschwinden die Schmerzen, kehren aber nach einigen Wochen oder Monaten wieder zurück. Patienten, die Pech haben, landen jetzt im Operationssaal. Rund 800.000 Wirbelsäulenoperationen werden in Deutschland jährlich vorgenommen.
An der Wirbelsäule wird gesägt und gehämmert, gefräst und gehebelt. Bandscheiben werden entfernt, Knochenteile abgetragen. Bänder, Sehnen und Muskeln werden zerschnitten. Den Großteil dieser Eingriffe bräuchte es nicht. Jedenfalls nicht, um die Patienten von der Qual der Rückenschmerzen zu befreien.
Anders sieht es auf Seiten der Kliniken und Ärzte aus. Für sie lassen sich über Wirbelsäulen-Operationen willkommene Einnahmen generieren. Bei einer Patientenanalyse mit mehr als 12.000 Betroffenen in München stellte sich heraus: 80 Prozent der vorgenommenen Operationen waren überflüssig.4
Ähnlich wild und verschwenderisch wird mit dem Einsatz von Diagnosemitteln umgegangen. Bildgebende Verfahren wie Röntgen, Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) werden auf Teufel komm raus eingesetzt. Bei den mehr als 38 Millionen Arztbesuchen jährlich wegen Rückenschmerzen in Deutschland werden über 6 Millionen Bildaufnahmen angefertigt. Höchstens 10 bis 20 Prozent davon wären notwendig, um zu einer Diagnose zu kommen. Aber nachdem diese Geräte in der Anschaffung auch für niedergelassene Ärzte erschwinglich geworden sind und sie in vielen Praxen stehen, bietet es sich an, sie einzusetzen. Auf diese Weise amortisieren sie sich schneller und kommen in die Gewinnzone.
Nur selten werden die Ursachen gefunden
Allerdings muss auch gesagt werden: Die Patienten selbst sind mit Schuld am verschwenderischen Umgang mit den Geräten. Rund 60 Prozent der unter Rückenschmerzen Leidenden erwarten von ihrem Arzt, dass er hochtechnisiert bei ihnen auf die Suche nach der Ursache der Rückenschmerzen geht. Dabei werden bei gerade einmal bei 15 Prozent der Patienten die Ursachen gefunden – unabhängig vom Einsatz der bildgebenden Geräte.5 Bei den meisten Patienten bleibt es ungeklärt, weshalb ihnen der Rücken schmerzt. Bei ihnen spricht man von nicht-spezifischen Schmerzen. Nur wenn eine Ursache festgestellt werden kann, ist die Rede von spezifischen Rückenschmerzen.
Viele Ärzte geben immer noch falsche Ratschläge
Selbstverständlich ist es wichtig, Rückenschmerzen von einem Arzt beurteilen zu lassen, wenn der Verdacht besteht, dass sich etwas Ernsthaftes dahinter verbirgt.6 Dies könnten zum Beispiel sein: gefährliche Komplikationen nach Verletzungen, Wirbelbrüche oder Entzündungen. Aber etwa 85 Prozent aller Rückenschmerzen sind medizinisch unkompliziert, die meisten von ihnen verschwinden mit moderater Bewegung und Wärme von selbst wieder.
Allerdings ist es auch unter Ärzten immer noch weit verbreitet, den Patienten falsche Ratschläge zu geben. So wurde etwa in einer groß angelegten Studie der Bertelsmann-Stiftung zu Rückenschmerzen festgestellt,7 dass 47 Prozent aller Patienten von ihren Ärzten gesagt wurde, ihr Rücken wäre »kaputt« und »verschlissen«. Das setzt den Betroffenen psychisch zu und ist ebenso großer Unsinn, wie die daraus folgenden Ratschläge der Ärzte für ihre Patienten. Ganzen 43 Prozent der am Rücken Leidenden wurde empfohlen, Ruhe, Schonung und – noch schlimmer – Bettruhe einzuhalten. Das aber ist grundfalsch.
Heute ist nachgewiesen, dass sanfte und mäßige Bewegung in vielen Fällen das Beste ist, um auf Dauer etwas gegen die Rückenschmerzen zu tun. Ebenso falsch ist es, die Diagnostik bis zum Exzess zu treiben. Das belastet die Patienten nicht nur, sondern kann – was viele nicht wissen – in nicht geringem Maße dazu beitragen, dass die Schmerzen chronisch werden. Das jedenfalls wurde in Studien der Universitäten Washington8 und Nottingham9 sowie an der Cleveland Clinic10 festgestellt.
Viele therapeutische Maßnahmen bringen nur wenig oder gar nichts
Ebenso wild wie der Einsatz bildgebender Geräte zur Diagnostik und die damit verbundenen Ratschläge zur Heilung, ist die Anwendung von therapeutischen Maßnahmen – vieles davon bringt wenig oder nichts, außer dem Therapeuten finanzielle Vorteile. Wie bereits beschrieben, bringt Bettruhe überhaupt keine Besserung, sondern verschlechtert vielmehr die Schmerzen.
Dies konnte in einer Metaanalyse der Universität Sidney11 und einer Cochrane-Metaanalyse12 eindeutig belegt werden. Zur Behandlung nicht-spezifischer Rückenschmerzen hingegen hat sich eine Kombination von Bewegung- und Verhaltenstherapie bestens bewährt.13,14,15 Als eher weniger erfolgreich zur Therapie nicht-spezifischer Rückenschmerzen haben sich herausgestellt: progressive Muskelrelaxation16, Wärmetherapie ohne professionelle Anleitung17, manuelle Therapie18, Massagen19, Ergotherapie20, Rückenschule21 und Akupunktur22.
Regelrecht abgeraten bei der Behandlung von nicht-spezifischen Rückenschmerzen wird von Interferenzstromtherapie23, Kinesiotaping24, Kurzwellendiathermie25, Lasertherapie26, Magnetfeldtherapie27, perkutane elektrische Nervenstimulation (PENS)28, Kältetherapie29, transkutaner elektrischer Nervenstimulation30 sowie therapeutischem Ultraschall31.
Werden die Schmerzen unerträglich, können vorübergehend zur Linderung Schmerzmittel eingenommen werden. Entgegen früherer Empfehlungen wird wegen möglicher Nebenwirkung heute jedoch dringend von Paracetamol32 und Flupiritin33,34 abgeraten. In Studien der Universitäten Sydney, New South Wales, Beijing und Zagreb stellte sich das Risiko für Leberschädigungen bis hin zum Leberversagen als zu groß heraus. Kaum Nebenwirkungen hingegen ergaben sich bei der Verabreichung von Opioiden für längstens 4 bis 12 Wochen.35,36
Bei diesen Beschwerden zum Arzt
Damit keine ernsten Beschwerden hinter den Schmerzen stecken, aus denen sich schwerere Komplikationen ergeben könnten, sollten Sie unbedingt zum Arzt gehen, wenn die Schmerzen länger als 3 bis 5 Tage unverändert anhalten. Außerdem ist ein Arztbesuch angebracht bei folgenden Alarmsignalen:
- Lähmungen mit Schmerzen und Empfindungsstörungen an den Beinen (Oberschenkel/Reithosenanästhesie), im Unterleib oder um den Anus;
- Kontrollverlust über Blase und Darm mit unwillkürlichem Abgang von Harn oder Stuhl;
- Taubheitsgefühle, die durch Druck von vorgefallenem Bandscheibengewebe auf Nerven entstehen können;
- unsicherer Gang, Schwindelanfälle, Fieber (eventuell mit Schüttelfrost);
- zunehmende Muskelschwäche und Kribbeln in den Beinen oder Armen;
- starkes Schwitzen in der Nacht.
Diese Symptome müssen unbedingt abgeklärt werden. Grundsätzlich sollte die erste Anlaufstelle der Hausarzt sein, dieser kann dann weitere Schritte in die Wege leiten wie zum Beispiel eine Überweisung zum Facharzt oder vielleicht sogar eine Einweisung in die Klinik zur gründlichen Abklärung der Ursachen.